von Kirsten Schade, Betroffene, Autorin und Beraterin
Ich weiß noch genau, wie ich eines Tages von der Grundschule nach Hause lief. Hinter mir ein Junge, der immer wieder rief: „Die Kirsten hat ein dickes Bein, die Kirsten hat ein dickes Bein.“ Ich war vielleicht neun Jahre alt. Dieser Satz hat sich eingebrannt. Seit diesem Tag wollte ich nicht mehr auffallen. Ich wollte unsichtbar sein. Ich trug lange Hosen, Mäntel, Schals, alles, was etwas verdeckte. Ich wollte, dass niemand etwas sieht. Und so begann ich, mich zu verstecken.
Ich weiß noch genau, wie ich eines Tages von der Grundschule nach Hause lief. Hinter mir ein Junge, der immer wieder rief: „Die Kirsten hat ein dickes Bein, die Kirsten hat ein dickes Bein.“ Ich war vielleicht neun Jahre alt. Dieser Satz hat sich eingebrannt. Seit diesem Tag wollte ich nicht mehr auffallen. Ich wollte unsichtbar sein. Ich trug lange Hosen, Mäntel, Schals, alles, was etwas verdeckte. Ich wollte, dass niemand etwas sieht. Und so begann ich, mich zu verstecken.
Ich kenne es gar nicht, „normal“ zu sein. Ich wurde mit einem dicken Bein geboren, dem rechten. Es war nie anders. Aber als Kind versteht man nicht, warum der eigene Körper anders aussieht. Ich wollte dazugehören, lachen, tanzen, das tragen, was die anderen trugen. Ich erinnere mich, wie ich im Schlafzimmer meiner Eltern stand, vor dem Spiegel, und versuchte, mein Bein schmaler zu drücken. Ich wollte, dass es verschwindet. Doch es blieb. Und mit ihm blieb das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Ich lernte früh, dass Blicke weh tun können. In der Schule, auf der Straße, später im Freibad. Ich wusste genau, wann jemand mein Bein ansah. Ich spürte diesen Blick. Und mit jedem Blick wuchs die Unsicherheit. Ich wurde Meisterin im Verstecken. Ich sagte mir, es sei mir egal, was andere denken, aber das stimmte nicht. Innen war ich verletzt, unsicher und müde davon, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.
Der Wendepunkt kam, als ich das erste Mal in der Földiklinik zur Reha war. Ich saß mit einer Mitpatientin vor dem Arztzimmer. Sie hatte auch ein dickes Bein, nur auf der anderen Seite. Sie hatte das linke, ich das rechte. Wir sahen uns an, und plötzlich war da Erleichterung. Kein Mitleid, kein Vergleich, einfach Verstehen. In diesem Moment wurde mir klar, ich bin nicht allein. Es gibt andere, die dasselbe erleben. Diese Erkenntnis war der Beginn meiner inneren Heilung.
Mit jeder Reha habe ich mein Schicksal besser verstanden. Ich habe gesehen, dass es vielen schlechter geht. Menschen mit schweren Lymphödemen, Gesichtsödemen, Patientinnen nach Krebserkrankungen, die kaum gehen konnten. Kinder, die tapfer ihre Bandagen trugen und trotzdem lachten. Nach jeder Reha kam ich nach Hause und dachte: Mir geht es gut. Mein Bein ist Teil von mir, aber es bestimmt nicht mein Leben.
Der umfassende Ratgeber für ein erfülltes Leben trotz Diagnose
Erfahrungen, Tipps und Hoffnung in einem Sammelband – für Betroffene, Angehörige und Fachpersonal.
Natürlich gab und gibt es Rückschläge. Mein Lymphödem betrifft nicht nur das Bein, sondern auch Hüfte, Po, Bauch und Darm. Ich bin stark abhängig von meiner Ernährung. Ich darf keine normalen Fette essen, nur mittelkettige MCT-Fette. Wenn ich mich daran halte, fühle ich mich frei, leicht und beweglich. Ich habe Energie und das Gefühl, meinen Körper im Griff zu haben. Wenn ich aber auswärts esse, und etwas Fettiges erwische, bekomme ich sofort Durchfälle, Übelkeit, Kopfschmerzen, manchmal Erbrechen. Mein Bein schwillt an, ich fühle mich, als würde ich einen Betonklotz mitschleppen.
Früher war das schlimm für mich. Heute denke ich: Es ist, wie es ist. Ich kann jederzeit wieder anfangen, mich gut zu ernähren. Jeder Tag ist eine neue Chance, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Das hilft mir, gelassener zu bleiben.
Ich erlebe auch in der Beratung, dass viele Betroffene dieselben Ansprüche an sich haben wie ich früher: perfekt sein, alles richtig machen, nie nachlassen. Besonders Angehörige neigen dazu, alles perfekt für den Pflegebedürftigen zu erledigen. Ich verstehe das gut. Ich bin auch so. Aber Perfektion ist eine Illusion. Selbstliebe heißt, freundlich zu sich zu sein, auch wenn nicht alles klappt.
In den letzten Jahren hat sich in der Gesellschaft viel verändert. Früher sprach kaum jemand über Lymphödeme, Lipödeme oder chronische Erkrankungen. Heute sieht man Menschen in Kompressionsstrümpfen auf Social Media, in Zeitschriften, in Kampagnen. Das ist ein großer Fortschritt. Sichtbarkeit bedeutet Akzeptanz. Aber man muss auch aufpassen. Nicht alles, was im Netz gezeigt wird, entspricht der Realität. Es gibt Werbung, falsche Versprechungen und manchmal zu viel Offenheit. Wichtig ist, dass man sich informiert, aber kritisch bleibt.
… vor allem, auf mich zu achten. Meine kleine Bichon-Hündin Motte ist dabei meine beste Partnerin. Sie zwingt mich, regelmäßig Pausen zu machen, rauszugehen, zu atmen, mich zu bewegen. Drei Spaziergänge am Tag, egal bei welchem Wetter. Sie hält mich im Hier und Jetzt. Kein Mensch könnte das besser.
Ich sage oft: Das Wichtigste ist, dass wir bei uns bleiben. Kein Mensch kann dein Leben leben. Jeder trägt sein eigenes Schicksal. Und niemand geht ohne Umwege durchs Leben. Es gibt Höhen und Tiefen, Freude und Schmerz. Aber was zählt, ist, wie wir damit umgehen. Ein körperlicher Unterschied ist kein Makel. Es ist nur ein Teil von uns, so wie ein Muttermal, eine Narbe oder graue Haare. Es sagt nichts darüber aus, wie wertvoll ein Mensch ist. Entscheidend ist, wie wir mit anderen umgehen, wie wir denken, fühlen und handeln.
Wenn ich heute mit jüngeren Betroffenen spreche, sage ich: Hole dir Informationen, aber gehe deinen eigenen Weg. Entscheide selbst, welches Tempo du gehst und welche Therapie du wählst. Vernetze dich mit Gleichgesinnten. Niemand versteht dich besser als Menschen, die dasselbe erleben. In diesem Austausch liegt Heilung.
Neugier ist dabei mein Motor. Sie bedeutet für mich, offen zu bleiben. Nicht stehen zu bleiben, sondern hinzuschauen, hinzuhören, dazuzulernen. So öffnen sich Türen, und der Weg geht weiter. Selbstliebe ist kein Stillstand, sondern Bewegung.
Ich sehe mein Bein heute mit anderen Augen. Es ist nicht schön im klassischen Sinn, aber es gehört zu mir. Es erinnert mich an alles, was ich gelernt habe: an Geduld, Demut, an die Kraft, weiterzugehen. Es hat mich dahin geführt, wo ich heute bin – in meine Arbeit, in meine Bücher, zu den Menschen, die ich begleiten darf.
Ich wünsche jedem, der das liest, Achtung vor sich selbst. Das Leben ist zu kurz, um sich mit Unwichtigem aufzuhalten. Jeder von uns hat etwas, das ihn anders macht. Und das ist gut so. Bleiben wir neugierig, wach und mutig. Jeder Tag kann ein Anfang sein.
Ihre Kirsten Schade
„Du selbst, genauso wie jeder andere im gesamten Universum, verdienst deine Liebe und Zuneigung.“
– Buddha
